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Ein kritischer Denker: Václav Klaus zur Ukraine-Krise (2)

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Václav Klaus - Foto: Petr Novák / Wikimedia (cc)

Václav Klaus – Foto: Petr Novák / Wikimedia (cc)

 

(Fortsetzung; den ersten Teil dieses Artikels finden Sie hier)

 

Teil III : Was ist in der Ukraine und in ihrem Umfeld passiert?

Der ukrainische Disput kann etwas besser dargestellt werden, wenn man ihn auf vereinfachte und etwas schematische Modelle reduzieren, wobei die Details verschwinden, jedoch die grundlegende Fragestellung als Skelett überbleibt.

Modell A: es gab einen echten Volksaufstand, wobei es um Demokratie, Unabhängigkeit und eine Assoziierung mit Europa ging

Dieses Modell basiert auf der prinzipiell richtigen These, dass die Ukrainer zu Recht äußerst unzufrieden mit der Situation in ihrem Land sind. Sie sehen den Grund dafür in den Handlungen ihrer inkompetenten und korrupten politischen Führer (die sie immer wieder gewählt haben, wobei diese Wahlen trotz aller bestehenden Probleme grundsätzlich demokratisch waren), die sich nicht für den „Weg nach Europa“, d.h. für ein Assoziierungsabkommen mit der EU und für harte Verhandlungen mit Russland über Gaspreise und andere Dinge eingesetzt hatten.

Es gab echte Massendemonstrationen auf den Straßen. Dabei spielen Wochen oder Monate mit eisigen Temperaturen keine Rolle. Wenn friedliche Proteste nicht ausreichen, werden die Demonstrationen in spontaner Weise immer heftiger (obwohl die Regierung allerlei Konzessionen macht und keine repressiven Maßnahmen gegen die Demonstranten ergreift). Die Demonstranten werden von gut ausgebildeten und stark bewaffneten Einzelpersonen sowie von organisierten Gruppen im In- und Ausland unterstützt; von russischer Seite kommt es hingegen zu keiner Unterstützung für sie. Der allgemeine Eindruck ist, dass Russland über diesen Prozess der Destabilisierung in seinem wichtigen Nachbarland nicht ganz unerfreut ist, wenn es nicht sogar diese Entwicklung direkt unterstützt.

Nachdem die Demonstranten in den Straßen von Kiew einen Sieg errungen haben und der demokratisch gewählte Präsident aus dem Land flieht, wird eine angeblich von allen gewollte Regierung aufgestellt, während die russische Armee eingreift und die Krim besetzt, so wie Hitler im Jahre 1939 Böhmen und Mähren besetzt hatte oder so wie Breschnew im Jahre 1968 die gesamte Tschechoslowakei besetzen ließ. Weder 1939 noch 1968 haben die Demokraten der Welt stark genug protestiert, deshalb ist es wichtig, dies jetzt umso deutlicher zu tun. Bis zu dem Tag, an dem die Demokratie gewinnt. Die Linie von Hitler über Breschnew bis hin zu Putin ist deutlich zu sehen, und diejenigen, die sie nicht sehen, haben sie seinerzeit ebenfalls nicht gesehen.

Modell B: Die Unzufriedenheit in der Ukraine wurde instrumentalisiert, um eine neuerliche Konfrontation des Westens mit Russland zu erzeugen

Modell B beginnt gleich wie Modell A. Die Ukrainer sind zu Recht äußerst unzufrieden mit der Situation in ihrem Land und bringen dies in unterschiedlicher Form zum Ausdruck. Doch es handelt sich hierbei um ein Land, das:

- nicht echt europäisch ist (obwohl es schwierig es ist, die Grenzen Europas zu definieren)

- an Russland grenzt (obwohl die Grenzziehung nicht authentisch ist)

- seit Jahrzehnten ein Teil von Russland oder russisch dominiertes Gebiet war

- Millionen von russischen Einwohnern zählt (mehr als ein Drittel der Bevölkerung) und einen modus vivendi mit Russland herstellen bzw. immer wieder aufs Neue finden muss.

Diese immer wieder auflebende Krise diente jenen, die || aus diversen Gründen Russland schon immer in die Knie zwingen wollen, als Vorwand, um eine neuerliche Konfrontation zwischen dem Westen und Russland zu schaffen. Diesen Leuten ist jedoch sehr wohl bekannt, dass Russland die Destabilisierung eines wichtigen (des größten und bevölkerungsreichsten) Nachbars nicht akzeptieren kann.

- Deshalb wurde die bestehende Unzufriedenheit mehr und mehr in Richtung Russland gelenkt;

- deshalb wurden Zwistigkeiten, die von der westlichen Ukraine ausgingen, verstärkt;

- deshalb wurde der Konflikt zwischen der westlichen und östlichen Ukraine genährt, der im wesentlichen ein Konflikt zwischen Ukrainern und Russen ist;

- deshalb wurde die realen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland falsch interpretiert;

- deshalb wurde ein Bild von Russland als einer expandierenden Supermacht gezeichnet, die lediglich auf eine Gelegenheit wartet, um die Ukraine zu besetzen.

Wir sind sicherlich keine leidenschaftlichen Fürsprecher für Russland und seinen Führer und wissen, dass es naiv und absurd wäre, gegenüber den langfristigen russischen Interessen idealistische Anschauungen zu hegen; andererseits stimmen wir jedoch mit Henry Kissinger überein, der vor kurzem sagte, dass „die Dämonisierung von Wladimir Putin keine Politik ist, sondern ein Alibi für das Fehlen einer solchen“. Genau dies ist in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa derzeit der Fall.

Nach dem Putsch in Kiew (Putsch, weil er – jedenfalls in den Augen von legalistischen Puristen – auf verfassungswidrige Weise durchgeführt wurde), nach der Anwendung brutaler Gewalt gegen alle jene, die es gewagt hatten, nicht konforme Ansichten zu vertreten, nach der De-facto-Ausweisung des demokratisch gewählten Präsidenten, der sich nicht gegen gewalttätige Demonstranten vorzugehen traute, und nach ständig zunehmender Besorgnis des russischen Teils der ukrainischen Bevölkerung wurde auf der Krim, einem speziellen und geografisch begrenzten, formell autonomen Teil der Ukraine, ein Referendum abgehalten (mit deutlicher Zustimmung und stiller Freude auf russischer Seite), an dem der überwältigende Teil der Bevölkerung teilnahm und entschlossen den Wunsch der Bevölkerung der Krim zum Ausdruck brachte, ihre Assoziierung mit der Ukraine (der sie vor der Intervention Chruschtschows im Jahre 1954 niemals angehört hatten) aufzulösen. Es ist offensichtlich, dass diese Menschen nicht in einem Vakuum verbleiben und deshalb nach Russland zurückkehren wollten. Es ist ebenso offensichtlich, dass Russland damit zufrieden sein kann (auch wenn es erhebliche kurzfristige Probleme gibt). In jedem Fall war jedoch die Abfolge der Ereignisse eine ganz andere als das, was uns von den Mainstream-Medien präsentiert wurde, nämlich die Behauptung, dass Russland die Krim aus eigenem Gutdünken heraus annektiert hätte.

Im Einklang mit seinen Eigeninteressen interpretiert der Westen den Anschluss der Krim an Russland als Beispiel eines erneuerten russischen Imperialismus. Ein guter Freund von uns, der seit der russischen Besetzung der Tschechoslowakei im Jahr 1968 in Deutschland lebt, wollte während eines unlängst geführten Gesprächs nicht auf unsere Argumente eingehen, räumte aber eine wichtige Tatsache ein: seit der Besetzung seiner Heimat war sein Hass gegen Russland (obwohl es sich eigentlich um den Hass auf den Kommunismus und die Sowjetunion handeln sollte) so intensiv, dass er sogar keine traditionelle russische Literatur des 19. Jahrhunderts mehr lesen wollte. Das ist zwar irrational, entspricht aber durchaus der Mainstream- Interpretation der Lage in der Ukraine und der russischen Absichten bei uns in der Tschechischen Republik, in Europa und wohl auch in Amerika. Deshalb soll unsere Polemik nicht der Verteidigung von Russland und seinem Präsidenten dienen, sondern ein Versuch sein, riskante Schritte in Richtung eines neuen Kalten Kriegs abzuwenden, dessen unvermeidliche Opfer wir selbst und die von uns errungenen Freiheiten sein würden.

Dieses beiden unterschiedlichen Interpretations-“Modelle“ der ukrainischen Krise könnten noch weiter entwickelt, ergänzt oder verbessert werden, aber wir sind davon überzeugt, dass sie für eine grundsätzliche Orientierung ausreichen. Fügen wir noch hinzu, dass wir volles Verständnis dafür haben, dass die Mehrheit der Bevölkerung der Krim (hauptsächlich Russen) nicht Teil eines Staates sein möchte, der vor dem Bankrott steht und in zunehmendem Maße von Personen und Gruppen aus dem westlichen, d.h. nicht-russischen Teil der Ukraine gesteuert wird, deren vorrangige Politik es ist, sich Russland und den Russen zu widersetzen. Es ist keinesfalls überraschend, dass die Menschen der Krim lieber Teil von einem wohlhabendenderen und wirtschaftlich erfolgreicheren Russland sein wollen.

Ebenso wichtig ist es festzustellen, dass die ukrainische Armee auf der Krim so gut wie keinen Widerstand geleistet hat, sich entwaffnen ließ und in großen Scharen auf die andere Seite überlief – also zur russischen Armee. Dies ist ein weiteres Beispiel für die Auflösung des ukrainischen Staates.

Teil IV. Legalistischer Fundamentalismus und das „reale Leben“

Im Zusammenhang mit dem fortschreitenden Zerfall der Ukraine – Abtrennung der Krim und ihr Anschluss an Russland, Unabhängigkeitserklärungen von weiteren separatistischen russischen „Republiken“ und Forderungen nach auf Abtrennung gerichteten Referenden in anderen Teilen der östlichen Ukraine – bringen westliche Kommentatoren diverse juristische Argumente vor und behaupten, dass solche Schritte im Widerspruch zur derzeitigen Rechts- und Verfassungsordnung der Ukraine stünden und daher illegal bzw. inakzeptabel seien. Auch hier muss man zunächst den entsprechenden Kontext herstellen, wozu man gar kein Experte für ukrainisches Recht sein muss. Denn darum geht es hier gar nicht.

Diese weitgehend akademischen Argumente mögen vielleicht richtig sein, wenn es um die Frage der Rechtswidrigkeit der einen oder anderen separatistischen Maßnahme geht, aber das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit. Das reale Leben ist immer dem Recht voraus und das Recht stellt sich darauf letztlich rückwirkend ein. Die veränderte Realität führt zu neuen Gesetzen und auch diese sind per Definition nur vorübergehend gültig. Das wirkliche Leben und die realen Bedürfnisse finden immer ihre Wege und nur selten können die Gesetzesänderungen damit überhaupt Schritt halten.

In der jüngeren Geschichte gab es nur einen Fall einer wirklich verfassungsmäßigen und auf Gesetzesbasis durchgeführten Teilung eines Staates, nämlich den der tschechoslowakischen Föderation. Der Zerfall Jugoslawiens und später Serbiens wie auch jener der Sowjetunion war dem Wesen nach chaotisch und verlief meist in Form von Konfrontation und Gewalt, wodurch vollendete Tatsachen geschaffen wurden. Dies bedarf keiner weiteren || Analyse. Die Mehrzahl der modernen Staaten in Europa und auf der ganzen Welt haben ihre Unabhängigkeit als Folge heftiger Kämpfe gewonnen, wobei das jeweils geltende Recht einfach ignoriert wurde. Es ist somit unnütz, den Menschen das Recht auf Unabhängigkeit mit dem Argument absprechen zu wollen, Separatismus sei rechtswidrig. Andernfalls müssten wir die Rechtmäßigkeit der Vereinigten Staaten in Frage stellen, ja selbst diejenige unseres eigenen Staates, der ja bekanntlich im Widerspruch zur Verfassung der österreichisch-ungarischen Monarchie im Jahre 1918 entstand.

Die internationale Akzeptanz von veränderten Grenzverläufen ist eben keine Rechtsfrage und hängt in erster Linie von den tatsächlichen Machtverhältnissen ab, welche in einem Land, einer Region oder weltweit herrschen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die moderne Welt kaum von der antiken Welt. Sollte man solche Veränderungen rein rechtlich beurteilen wollen, dann würde man sich sehr rasch in doppelten Standards und Widersprüchen verwickeln.

Es ist klar, dass das Chaos, Anarchie und Wirtschaftskrise || sowohl dem Westen als auch Russland ermöglicht haben, sich in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einzumischen. Es ist auch nicht verwunderlich, dass die meisten Russen, die mit den ungünstigen Bedingungen in der Ukraine unzufrieden sind und Angst vor der Zukunft haben, zu Russland aufblicken, das relativ wohlhabend, stabil und leistungsfähig ist. Die Tatsache, dass die meisten von ihnen keinen Grund zur Loyalität gegenüber der Ukraine haben und sich massiv für einen Anschluss an Russland per Referendum aussprechen, kann nur völlig || voreingenomme Beobachter überraschen. Diese grundsätzliche Einstellung der Betroffenen lässt sich auch dadurch nicht aus der Welt schaffen, indem man etwa bestimmte Formalfragen bei den Referenden aufwirft.

Es ist nicht möglich, die Einheit der Ukraine allein durch rechtliche Argumente, Gesetze oder die Verfassung aufrecht zu erhalten. Es ist ebenso unmöglich, dies durch || demokratische Verfahren wie Wahlen zu versuchen, etwa Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen. Wenn in einer Wahlabstimmung der westliche Teil der Ukraine über den östlichen Teil obsiegt oder umgekehrt, dann ist das keine Lösung, denn was nützt es, wenn der Gewinner sich auf eine demokratische Mehrheit und Legitimität berufen kann? Die Zukunft der Ukraine kann nur in einem erfolgreich umgesetzten Projekt für einen Gesamtstaat liegen, solange dieses für beide Seiten befriedigend ist; genau dies erscheint jedoch angesichts der eskalierenden Spannungen und des zunehmenden Drucks von außen immer weniger wahrscheinlich.

Teil V. Der Ereignisse in der Ukraine werden zur Beschleunigung der europäischen Einigung (und Schwächung der Demokratie in Europa) missbraucht

Die Ereignisse in der Ukraine werden kurz- und längerfristig eine Reihe von direkten oder indirekten Folgen nach sich ziehen, und zwar sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht.

Kurzfristige Folgen wirtschaftlicher Art wird es für die Tschechische Republik insofern geben, als die Zahl von Touristen aus Russland und aus der Ukraine sowie das Geschäft in den Bädern Westböhmens abnehmen wird, bestimmte Wirtschafts -und Investitionstätigkeiten sich verlangsamen werden und es bei der Energieversorgung aus dem Osten zu Komplikationen kommen kann. Das ist sicherlich für bestimmte tschechische Unternehmen unangenehm, aber jedenfalls nicht fatal für das Land als Ganzes. Früher oder später werden sich wirtschaftliche Aktivitäten dieser Art wieder auf das alte Niveaus einpendeln. Natürlich ist uns klar, das es für die betroffenen Unternehmen, die Geschäfte mit Russland und der Ukraine tätigen, nicht leicht sein wird, diese Phase zu überdauern. Sie sind zu recht besorgt und können auch nicht erwarten, dass der Staat ihnen eine Entschädigung anbietet.

Die nicht-wirtschaftlichen Folgen sind hingegen viel schlimmer und auch viel gefährlicher. Die internationale Politik wird mehr und mehr radikalisiert, es wird eine neue Stufe der Konfrontation zwischen West und Ost geben und der Konflikt zwischen Westeuropa (dem wir uns zugehörig fühlen) und dem zunehmend selbstbewussten Russland Wladimir Putins wird immer schärfer werden. Diese erhöhte internationale Spannung ist ein eindeutiger Nachteil für die Tschechische Republik; wir werden als Kleinstaat in der Nähe der symbolischen Grenze zwischen Ost und West dafür unseren Preis entrichten müssen.

Der von den Brüsseler Eliten vertretene europäische politische Mainstream stellt indes ein Kalkül an, die || Krise in der Ukraine für eine Stärkung der europäischen Zentralisierung und Vereinheitlichung zu nutzen, vor allem in Richtung einer gemeinsamen Außenpolitik (lies: eines Ausschaltens des derzeit noch unterschiedlichen außenpolitischen Verhaltens der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten) und der Schaffung einer gemeinsamen europäischen Armee, eine Idee, die von den meisten Mitgliedsstaaten bisher ebenfalls nicht unterstützt wurde. Eine solche weitere Verschärfung der europäischen Einigung und Zentralisierung, die viele von uns heute noch als unakzeptabel ansehen, widerspricht den realen Interessen der Tschechischen Republik, selbst wenn Präsident Zeman das anders sehen will. Wir befürchten, dass es zu einer Einschränkung der Bürgerrechte, insbesondere der Meinungsfreiheit und der Freiheit der Abweichung von der „offiziellen Meinung“ kommen wird.

Ein gewisser Teil des europäischen politischen Mainstream, der im Einklang mit den Vereinigten Staaten agiert, versucht jedenfalls, Russland zu einem „Schreckgespenst“ im Osten zu machen, was durchaus im amerikanischen strategischen Interesse liegen mag. Die Ukraine ist dabei lediglich Werkzeug zu diesem Zweck. Unser Interesse kann dies jedoch nicht sein und es ergeben sich daraus auch keinerlei Vorteile für uns.

Quelle:
Václav Klaus, Jiří Weigl, Politische Erklärung des Václav Klaus Instituts Nr. 25. IVK, Prag, 15. April 2014.
Übersetzung aus dem Tschechischen (leicht gekürzt).


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